Was ist selbstbestimmte Bildung, wie funktioniert sie und wie können wir wissen, dass sie funktioniert?

(Foto: Schools of Trust)
 
Im Mai 2017 fuhren Tom und Thilo vom Demokratische Schule Düsseldorf e.V. nach Bayern, um an der Benefiz-Veranstaltung der Sudbury Schule Ammersee teilzunehmen. Sie hatte den Schulbetrieb im Jahr 2014 aufgenommen und wurde nach zwei erfolgreichen Jahren von der Regierung Oberbayerns geschlossen. Mit unserer Teilnahme konnten wir das Bemühen um die Wiedereröffnung der Schule unterstützen, konnten hochkarätige Bildungsexperten wie Peter Gray, Yaacov Hecht, Darry Hannam und Peter Hartkamp kennenlernen und uns mit den ehemaligen Schülern Demokratischer Schulen, Lernbegleitern und auch weiteren Gründungsinitiativen aus dem süddeutschen Raum austauschen.
Hauptredner war der Entwicklungspsychologe Peter Gray, dessen Vortrag nun hier zu lesen ist.
Wir danken Peter Gray für das Recht zur Veröffentlichung seines Vortrages.

Peter Gray, Ph.D. (*1946), Forschungsprofessor am Boston College, ist Autor der Bücher „Befreit Lernen“, einem wichtigen Beitrag zur Bildungsdebatte und „Psychology“, einem Einführungslehrbuch für das College, das jetzt in der 8. Auflage erscheint. Er hat Forschungen in vergleichender, evolutionärer, entwicklungspsychologischer und pädagogischer Psychologie durchgeführt und veröffentlicht. Er absolvierte sein Grundstudium an der Columbia University und promovierte in Biowissenschaften an der Rockefeller University.
Seine aktuelle Forschung und seine Schriften konzentrieren sich in erster Linie auf die natürliche Art und Weise, wie Kinder lernen, auf die Erfahrungen von Menschen, die einen selbstbestimmten Bildungsweg eingeschlagen haben und den lebenslangen Wert des Spielens.
Er ist Präsident der gemeinnützigen Alliance for Self-Directed Education, außerdem Gründungsmitglied der gemeinnützigen Organisation Let Grow und bloggt auf Psychology Today.
Sein eigenes Spiel umfasst nicht nur seine Forschung und sein Schreiben, sondern auch Radfahren, Kajakfahren, Skilanglauf in den Wäldern und Gemüseanbau.

 

Was ist selbstbestimmte Bildung, wie funktioniert sie und wie können wir wissen, dass sie funktioniert?
– Peter Gray, Boston College

 

Die Definition selbstbestimmter Bildung

Bildung ist die Summe von allem, was ein Mensch lernt, das diese Person in die Lage versetzt, ein zufriedenstellendes, sinnvolles und produktives Leben zu führen.
Selbstbestimmte Bildung ist Bildung, die sich aus den selbstgewählten Aktivitäten und Lebenserfahrungen der sich bildenden Person ergibt, unabhängig davon, ob diese Aktivitäten gezielt zum Zweck der Bildung gewählt wurden oder nicht.
Selbstbestimmte Bildung schließt auch organisierten Unterricht mit ein, sofern dieser vom Lernenden freiwillig gewählt wurde; meistens jedoch erfolgt selbstbestimmte Bildung auf andere Art und Weise. Selbstbestimmte Bildung ergibt sich meist aus dem Alltag, indem Menschen ihre eigenen Interessen verfolgen und nebenbei lernen. Die motivierenden Kräfte sind u. a. die Neugierde, der Spieltrieb und die Kontaktfreudigkeit. Diese fördern eine Vielzahl von Aktivitäten, bei denen Lernen geschieht. Selbstbestimmte Bildung führt unweigerlich dazu, dass jedes Individuum seinen eigenen Weg geht, wobei die einzelnen Wege sich häufig überschneiden, weil die Interessen einer jeden Person teils einzigartig sind und teilweise von anderen geteilt werden.
Selbstbestimmte Bildung kann der oktroyierten Bildung gegenübergestellt werden, das heißt solcher Bildung, die Individuen aufgezwungen wird, und zwar unabhängig davon, ob sie dies wünschen, und die durch Belohnungs- und Sanktionierungssysteme motiviert wird – so wie es in konventionellen Schulen geschieht. Generell hat die oktroyierte Bildung zum Ziel, eher die Anpassung als die Einzigartigkeit zu fördern. Außerdem produziert sie eine oberflächliche Art des Lernens, die hauptsächlich darauf abzielt, Prüfungen zu bestehen, weil sie sich nicht aus den eigenen Interessen und Lebenserfahrungen des Kindes ergibt.

 

Die motivierenden Kräfte der selbstbestimmten Bildung

Kinder kommen mit einem vorgegebenen Drang auf die Welt, sich selbst zu bilden. Das dahinter liegende Programm liefert starke Impulse, die sie dazu bringen, die physische und soziale Welt um sie herum zu erkunden, diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu üben, die in ihrem Kulturkreis wertgeschätzt werden, sich das anzueignen, was andere wissen, für ihr eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen und sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Konkret schließen diese Triebe Folgendes ein:

Neugierde
Alle normalen Kinder sind von der Geburt an sehr neugierig – und diese Neugierde nimmt mit dem Alter nicht ab, es sei denn, sie wird durch konventionelle Beschulung unterdrückt. Neugierde motiviert Kinder, aktiv zu forschen und die physische und soziale Welt um sie herum kennenzulernen.

Spielfreude
Der Bildungszweck des Spieltriebs ergänzt den der Neugierde. Während Kinder durch die Neugierde motiviert werden, neues Wissen zu erlangen und Dinge zu verstehen, ermutigt sie der Spieltrieb, neue Fähigkeiten zu üben und kreativ einzusetzen. Wenn sie die Gelegenheit und genügend Spielkameraden haben, verbringen Kinder sehr viel Zeit beim Spielen. Sie spielen, um Spaß zu haben, das heißt nicht direkt, um sich zu bilden – Bildung ist gewissermaßen die „Nebenwirkung“, für die der starke Spieltrieb durch die Evolution
hervorgebracht wurde. Ihr Spiel umfasst sämtliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für ihr
langfristiges Überleben und Wohlbefinden unabdingbar sind.

Ihr Spiel ist physisch betont, wenn sie klettern, sich jagen und balgen. So entwickeln sie körperliche Stärke und Beweglichkeit.

Ihr Spiel ist riskant. So lernen sie, ihre Angst in den Griff zu bekommen und Mut zu entwickeln.

Sie spielen mit Sprache und werden dadurch sprachlich kompetenter.

Sie spielen auf sozialer Ebene, mit anderen Kindern. So lernen sie zu verhandeln, Kompromisse einzugehen und mit Gleichaltrigen auszukommen.

Sie spielen nach impliziten oder expliziten Regeln und lernen so, sich an Regeln zu halten.

Ihr Spiel ist fantasievoll. Dadurch lernen sie, hypothetisch und kreativ zu denken.

Sie spielen mit der Logik und üben sich so im logischen Denken.

Sie spielen, Dinge zu bauen, und lernen so das Bauen.

Sie spielen mit den Werkzeugen ihrer Kultur und erlangen dadurch die Fertigkeit, diese Werkzeuge zu nutzen.

Kontaktfreudigkeit 
Wir Menschen sind nicht nur die neugierigsten und verspieltesten Säugetiere, sondern auch die mit dem stärksten Sozialgefüge. Unsere Kinder kommen auf die Welt mit dem instinktiven Wissen, dass ihr Überleben und Wohlbefinden davon abhängen, wie gut sie mit anderen Menschen in Kontakt gehen und von ihnen lernen können. Alle Menschen, insbesondere aber junge Menschen, wollen wissen, was die Leute um sie herum wissen, und sie wollen ihre eigenen Gedanken und Wissen mit anderen teilen. Anthropologen berichten, dass Kinder auf der ganzen Welt mehr durch Beobachten der Menschen um sie herum sowie durch Zuhören lernen als durch alle anderen Mittel (Lancy et al., 2010).

Die einzigartigste Anpassung an das soziale Leben – eine, die unser Vermögen, von anderen zu lernen, enorm fördert – ist die Sprache. Praktisch in dem Augenblick, wo sie überhaupt sprechen können, fangen Kinder an, Fragen zu stellen. Sie wollen nicht Dinge erklärt bekommen, die sie nicht interessieren – verlangen jedoch geradezu, über die Dinge aufgeklärt zu werden, die für sie interessant sind. Die Sprache ermöglicht uns, allerlei Informationen miteinander zu teilen. Sie ermöglicht uns, nicht nur miteinander über das Hier und Jetzt zu reden, sondern auch über die Vergangenheit, über die Zukunft und über hypothetische Szenarien.

Durch die Sprache bilden unsere Gehirne im Grunde genommen ein einziges kognitives System. Selbstbestimmt Lernende hängen sich gern und ganz natürlich an dieses Netzwerk. Durch das Internet ist dieses kognitive System heute größer denn je. Junge Menschen mit Zugang zum Internet haben dadurch auch Zugriff auf die gesamte Welt der Hypothesen, der Ideen, der Information. Sich selbstbestimmt zu bilden war noch nie so einfach wie heute.

Eigenwille 
Kinder kommen mit einer biologischen Eignung auf die Welt, selbst die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Ihr Drang, sich mit anderen zusammenzutun, wird durch einen entsprechenden Unabhängigkeitsdrang austariert. Dieser durchaus gesunde Trieb sorgt, sofern er sich in einer geeigneten Umgebung entwickeln kann, für ein fortwährendes Gefühl der persönlichen Verantwortung und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Selbstbestimmte Bildung fördert das Verlangen und das Vermögen eines Kindes, die Verantwortung für sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Vorausschauendes Denken
Mehr als jede andere Spezies sind wir in der Lage vorauszudenken. Wir können gar nicht anders. Wir reagieren nicht einfach nur auf die gegenwärtige Situation, sondern schmieden Pläne und setzen diese um. Dies ist der Grundbildungstrieb, der am stärksten bewusst kognitiv funktioniert, und er entwickelt sich langsamer als die anderen. Je älter die Kinder werden, desto mehr wollen und können sie vorausplanen – ihr Planungshorizont erweitert sich immer mehr. Dieser Trieb führt dazu, dass selbstbestimmt Lernende über ihre kleinen und großen Lebensziele nachdenken sowie gezielt das Wissen erwerben und sich die Fähigkeiten aneignen, die sie zum Erreichen dieser Ziele benötigen.

Kognitionswissenschaftler nennen diese Fähigkeit, Pläne zu machen und auszuführen selbstregulierte exekutive Funktionen. Die Forschung hat gezeigt, dass Kinder, die reichlich freie Zeit zum Spielen und zum Erforschen haben (allein und mit anderen Kindern, aber ohne Erwachsene), diese Kapazität gründlicher entwickeln als Kinder, die mehr Zeit mit erwachsenenorientierten Aktivitäten verbringen (Barker et al, 2014). Das ist nicht verwunderlich. Wenn Kinder ihre eigenen Aktivitäten erschaffen, üben sie ständig die Fähigkeit, Pläne zu schmieden und auszuführen. Sie machen zwar Fehler, aus diesen Fehlern lernen sie aber.

 

Die Sudbury Valley School

Die Schule wurde 1968 in Framingham, Massachusetts, USA gegründet und ist seitdem ununterbrochen in Betrieb. Es ist eine Ganztagsschule mit aktuell rund 180 SchülerInnen zwischen 4 und etwa 18 Jahren und 7 erwachsenen MitarbeiterInnen. Die Schule wird als partizipative Demokratie geführt. Alle Schulregeln werden durch die Schulversammlung beschlossen, wobei jeder Schüler und jeder Mitarbeiter eine Stimme hat. Die Regeln werden von einem Justizkomitee durchgesetzt, das nach dem Juryprinzip arbeitet. Zum Justizkomitee gehören immer mehrere Schüler verschiedenen Alters sowie ein Mitarbeiter.

Bildung an der Schule ist völlig selbstbestimmt. Schüler werden weder nach Alter, noch anderweitig getrennt; sie können sich in der Schule und auf dem Schulgelände frei bewegen. Sie können den ganzen Tag damit verbringen, ihren eigenen Interessen nachzugehen, vorausgesetzt, sie halten sich dabei an die demokratisch beschlossenen Regeln, die mit der Wahrung von Ordnung und einer friedlichen Atmosphäre zu tun haben. Die Schule bietet reichlich Material und Möglichkeiten zum Lernen, jedoch steht es den Schülern frei, diese Möglichkeiten zu nutzen. Jeder Schüler trägt die volle Verantwortung für die eigene Bildung. Die Mitarbeiter initiieren keine Kurse, allerdings kommt es vor, dass eine Gruppe von Schülern sich selbst zu einem Kursus formiert und einen Mitarbeiter bittet diesen zu leiten. Der Großteil des Lernens findet jedoch abseits von organisierten Kursen statt. An der Schule gibt es für die Schüler weder Tests noch Bewertungen jeglicher Art. Um ein Abschlussdiplom zu erhalten, müssen die Schüler eine Abhandlung darüber verfassen, wie sie ihre Zeit an der Schule zur Vorbereitung ihres weiteren Lebenswegs genutzt haben, und die von ihnen aufgestellte These begründen.

Die Verbreitung des Modells
Es wurden zahlreiche Schulen gegründet, die sich explizit an der Sudbury Valley School orientieren. Es gibt zwar keine offizielle Definition oder Katalogisierung solcher Schulen, jedoch identifiziert Wikipedia (2017) gegenwärtig 41 Schulen in den Vereinigten Staaten und 21 in anderen Ländern. Viele dieser Schulen sind klein und sie haben Mühe, sich finanziell über Wasser zu halten, manche dagegen haben sich fest etabliert, und einige wenige haben in etwa so viele SchülerInnen wie Sudbury Valley.

 

Folgestudien über Sudbury Valley-Absolventen

Die erste systematische Studie von AbsolventInnen der Sudbury Valley School wurde von mir und David Chanoff in den 1980er Jahren durchgeführt (Gray & Chanoff, 1986). Zu dieser Zeit gab es im Schularchiv 82 Absolventen, die unserer Definition entsprachen, d. h. Menschen, die die Schule mindestens zwei Jahre lang besucht und diese dann mit mindestens 16 Jahren verlassen hatten, ohne eine weitere Schulbildung zu planen. Von diesen Absolventen konnten wir 76 kontaktieren, und 69 aus dieser Gruppe füllten den recht umfangreichen Fragebogen aus und schickten ihn zurück (eine Antwortquote von 91% derer, die ausfindig gemacht werden konnten, bzw. 84% der Gesamtgruppe). Im Fragebogen ging es um ihre Aktivitäten in der Schulzeit, um anschließende Bildungsmaßnahmen und um Arbeitsstellen, die sie nach Verlassen der Sudbury Valley School hatten, sowie um die Frage, wie der Besuch einer derart ungewöhnlichen Schule ihnen gegebenenfalls im späteren Leben Probleme bereitete oder zu Gute kam.

Im Großen und Ganzen berichteten diejenigen, die eine Hochschulausbildung verfolgt hatten (ca. 75%), dass sie keine besonderen Schwierigkeiten gehabt hatten, an die Hochschule ihrer Wahl zu gelangen oder die akademischen Anforderungen zu bewältigen. Dies galt für diejenigen, die den Großteil ihrer regulären Schulzeit an der Sudbury Valley School verbracht hatten, und ebenso für diejenigen, die nur für kürzere Zeit dort waren. Sie übten ein breites Spektrum an Berufen aus, unter anderem aus den Bereichen Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, Medizin, im Dienstleistungssektor und dem Fachhandwerk. Viele der Absolventen verfolgten Tätigkeiten weiter, die sich direkt an die Dinge anknüpften, die sie als Kinder spielerisch ausgeübt hatten. Beispielsweise wurde eine Absolventin, die in der Schule viel Zeit mit der Herstellung von Puppenkleidung verbracht und dann ihre eigene Kleidung genäht hatte, Designerin in der Haute-Couture-Branche. Eine andere, die als junges Mädchen ausgiebig mit Booten gespielt hatte, wurde Schiffskapitänin. Wieder ein anderer Absolvent, der unzählige Stunden damit verbracht hatte, winzige Tonmodelle anzufertigen und mit mechanischen Geräten herumzutüfteln, wurde Maschinist und Erfinder. Diejenigen, die Profimusiker, Künstler oder Computerfachleute geworden waren, hatten in allen Fällen die entsprechenden Leidenschaften und Fähigkeiten in ihren frei gewählten Aktivitäten an der Schule entwickelt.

Eine Mehrzahl der Absolventen berichtete, dass ein ausgeprägter Sinn für die persönliche Verantwortung und Selbstkontrolle sowie eine andauernde Lernmotivation zu den wesentlichen Vorteilen der von ihnen an der Sudbury Valley School erworbenen Bildung zählten. Einige sagten, dass sie am Anfang ihrer Zeit im College das Gefühl hatte, akademisch etwas ausgebremst worden zu sein – jedoch konnten sie die empfundenen Defizite schnell wieder wettmachen. Bei der Beantwortung einer letzten Frage gab niemand der Befragten an, den Besuch der Sudbury Valley School im Gegensatz zu einer traditionelleren Schule zu bereuen. Alle berichteten, dass etwaige Nachteile durch die Vorteile aufgewogen wurden.

Nach der Studie von Gray und Chanoff führte die Schule selbst zwei weitere Studien über ehemalige SchülerInnen durch. Die Ergebnisse erschienen in Buchform (Greenberg & Sadofsky, 1992; Greenberg, Sadofsky, & Lempka, 2005). Die zweite dieser Studien ist besonders relevant für das Verständnis der Wirksamkeit der Bildung, die im Sudbury Valley stattfindet, da sie sich ausschließlich mit Personen befasst, die mindestens über einen Zeitraum hinweg an der Schule waren, der ansonsten den letzten drei Jahre der High School entspräche. Außerdem lag ihre Zeit an der Schule mindestens vier Jahre zurück. Laut Schulakten erfüllten insgesamt 199 Absolventen diese Kriterien, und die Forscher konnten davon 119 (60%) ausfindig machen und befragen. Die Interviews wurden von einer Person geführt, die keinerlei Bindung zur Schule hatte und den Absolventen nicht bekannt war. Die Fragen deckten eine große Bandbreite der Erfahrungen ab, die die Absolventen seit ihrer Schulzeit gesammelt hatten. Unter anderem ergab sich Folgendes:

81 (68%) dieser Absolventen hatten nach der Schule früher oder später vierjährige Collegesbesucht, außerdem hatten weitere elf an einer sonstigen Form von Weiterbildung teilgenommen. Die meisten erklärten, dass sie keine besonderen Schwierigkeiten hatten, das College ihrer Wahl zu besuchen. Die meisten, die aufs College gingen, gaben an, dass sie mit ihren Erfahrungen dort sehr zufrieden waren. Allerdings sagten einige, dass sie anfangs Schwierigkeiten hatten, Fristen einzuhalten und Forderungen zu erfüllen, und andere beschwerten sich darüber, dass das strenge Reglement, die hierarchische Struktur und unreife MitstudentInnen auf dem College ihre Bildungserfahrung eingeschränkt hätten.

Diese Studie, wie auch die vorangegangene von Chanoff und Gray, zeigte auch, dass die beruflichen Laufbahnen der Absolventen sehr unterschiedlich waren. Im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung entschieden sich besonders viele von ihnen für Tätigkeitsfelder in den Bereichen Kunst und Design, Gemeinschaft und soziale Berufe sowie Computer und Mathematik. Bei der Beantwortung der Frage, warum sie gerade dieses Tätigkeitsfeld gewählt haben, sprachen 65% von ihrer Leidenschaft für die und Freude an der Arbeit und 42% von der Bedeutsamkeit, anderen zu dienen. Durch andere Fragen wurde deutlich, dass die Absolventen in der Regel ihr Verantwortungsbewusstsein, ihr Selbstbewusstsein, ihr Engagement, ihre Kommunikationsfähigkeit und ihre selbstbestimmte Lebensführung als ihre primären persönlichen Stärken ansehen. Passend zum demokratischen Wesen der Sudbury Valley School zeigte eine Analyse ihrer Diskussionen über persönliche Werte die höchsten Prioritäten für eine Reihe von Werten wie Gleichheit, Frieden, Respekt und Toleranz, Verantwortung und die Rechte des Einzelnen.

Einige der größeren, nach dem Modell der Sudbury Valley School geführten Schulen haben eigene Forschungen bezüglich ihrer Absolventen initiiert. Eine dieser Schulen ist die 1984 gegründete Circle School in Harrisburg, Pennsylvania, USA. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht über ihre Absolventen kristallisieren sich Erfolgsfaktoren heraus, die denen der Sudbury Valley School sehr ähnlich sind. Der Bericht zeigt außerdem, dass dieser Erfolg nicht vom Einkommensniveau der Familien abhängt, aus denen die Schüler stammen (Circle School, 2015).

Eine ausführliche Betrachtung von Folgestudien über selbstbestimmte SchülerInnen, einschließlich Absolventen von Summerhill und Absolventen mit einem selbstbestimmten Homeschooling-Hintergrund, findet sich in meinem kürzlich veröffentlichten Kapitel in der Oxford Research Encyclopedia of Education (Gray, 2017).

 

Bedingungen, die selbstbestimmte Bildung optimieren

Wenn Erwachsene die Bildung ihrer Kinder nicht steuern, welche Rolle spielen sie dann überhaupt in der selbstbestimmten Bildung? Eine wichtige Rolle der Erwachsenen besteht darin, für eine Umgebung zu sorgen, die den Kindern optimale Möglichkeiten bietet, ihre natürlichen Bildungstriebe zum Tragen zu bringen und davon zu profitieren. Forschungsergebnisse weisen auf die folgenden sechs Bedingungen als Schlüsselfaktoren hin (Gray, 2016):

Die gesellschaftliche Erwartung (und deren Entsprechung in der Wirklichkeit), dass die Verantwortung für ihre Bildung bei den Kindern selbst liegt. Wenn Kinder auf die Welt kommen, glauben sie, dass sie für ihre eigene Bildung verantwortlich sind. Das ist der Grund dafür, dass sie mit dem Entdecken und Lernen gleich anfangen, sobald sie die Welt um sich erblicken, hören und sich darin bewegen können. Dies erklärt auch, warum sie mit dem Fragen anfangen, sobald sie sprechen können. Wenn wir Erwachsene jedoch so tun, als erfolge die Bildung der Kinder durch uns, so wie es in konventionellen Schulen der Fall ist, so entziehen wir den Kindern diese Verantwortung. Wir überzeugen sie, dass ihre eigene Neugierde und ihre Fragen nicht zählen, dass Spielen trivial ist und dass ihre Bildung davon abhängt, dass sie lieber Befehle ausführen als eigeninitiativ zu handeln. MitarbeiterInnen an Schulen, die auf selbstbestimmter Bildung basieren, sowie Eltern, die zu Hause erfolgreich selbstbestimmte Bildung ermöglichen, unternehmen nichts, was die natürliche Annahme der Kinder mindert, dass diese selbst für ihre Bildung verantwortlich sind.

Unbegrenzte Zeit zum Spielen, Entdecken und um die eigenen Interessen zu verfolgen. Um sich gut zu bilden, brauchen Kinder sehr viel freie Zeit – um Freundschaften zu schließen, Dinge zu entdecken, zu spielen, sich zu langweilen, die Langeweile zu überwinden und zu träumen. Sie brauchen Zeit für flüchtige Interessen und auch Zeit, um sich intensiv mit Aktivitäten zu beschäftigen, die ihren Leidenschaften entsprechen. Außerdem brauchen sie Platz – Raum, den sie durchstreifen können, Rückzugsorte sowie Gelegenheiten, ein Gefühl von Unabhängigkeit und Stärke zu erleben, wie es nur in der Abwesenheit von Erwachsenen möglich ist.

Gelegenheiten, mit den Werkzeugen der eigenen Kultur zu spielen. Bildung hat zum Großteil mit dem Kennenlernen der Kulturwerkzeuge zu tun. Die effektivste Art und Weise, die Handhabung eines beliebigen Werkzeugs zu beherrschen, besteht darin, damit herumzuspielen, damit kreativ zu sein, es seinem Willen zu unterwerfen, es dazu zu bringen, das zu machen, was man will. In den meisten traditionellen Kulturen ist den Erwachsenen dies bewusst, daher erlauben die sie selbst kleinen Kindern, mit den echten Werkzeugen der Kultur zu spielen. Schulen, Lernzentren und Familien, die sich mit selbstbestimmter Bildung beschäftigen, erlauben Kindern, mit den Werkzeugen unserer modernen Kultur, beispielsweise mit Büchern, Holzbearbeitungswerkzeug, Kochutensilien und Sportausrüstung zu spielen, wobei in einigen Fällen diese Erlaubnis erst nach einer Sicherheitsunterweisung erfolgt. Es überrascht nicht, dass das Werkzeug, mit dem junge Menschen am häufigsten spielen, der Computer ist. Jedes Kind, das um sich schaut, sieht, dass der Computer mit großem Abstand das wertvollste Werkzeug unserer Zeit darstellt und dass seine Beherrschung der Schlüssel zu wesentlich mehr Lerngelegenheiten ist.

Zugang zu vielen verschiedenen fürsorglichen Erwachsenen, die ihre Hilfe anbieten, anstatt über die Kinder zu urteilen. In traditionellen, vorindustriellen Gesellschaften wurden Kinder und Erwachsene nicht voneinander getrennt. Kinder konnten beobachten, was Erwachsene tun, und dies in ihr Spiel integrieren. Außerdem konnten sie den Geschichten, Diskussionen und Debatten der Erwachsenen lauschen und aus dem Gehörten lernen. Brauchten sie Hilfe von einem Erwachsenen, konnten sie auswählen, an wen sie sich wenden. In Schulen und Lernzentren, die sich an selbstbestimmter Bildung orientieren, gehen Erwachsene und Kinder gleichberechtigt miteinander um. Es gibt keine Räume, in denen sich Mitarbeiter unter Ausschluss der Schüler aufhalten. Die Schüler können bei jeder Diskussion unter Erwachsenen zuhören, beobachten, was die Erwachsenen tun, und mitmachen, wenn sie wollen. Schüler, die Hilfe von einem Erwachsenen erhalten möchten, können unter den Mitarbeitern die Person aussuchen, die ihrer Meinung nach am geeignetsten ist. Erwachsene können dann am effektivsten helfen, wenn sie nicht gleichzeitig Beurteilungen über die Kinder abgeben müssen. Eltern und Mitarbeiter, die mit selbstbestimmter Bildung zu tun haben, vermeiden es, die Rolle eines Beurteilenden zu übernehmen. Keine(r) von uns, egal wie alt, ist in der Lage, gegenüber Menschen, deren Aufgabe es ist, über uns zu urteilen, voll und ganz ehrlich zu sein, das heißt vollkommen frei unsere Verletzlichkeit zu zeigen und sie um Hilfe zu ersuchen. Glauben wir, dass über uns geurteilt wird, schalten wir sofort in den Eindrucksmodus. Wir stellen unser Wissen und Können zur Schau und vermeiden das, was wir nicht wissen oder nicht gut können. Beurteilung schürt außerdem Angst, und Angst ist eine Lernbremse. Eindruck machen wollen und Angst bremsen Bildung aus.

Freie Altersmischung bei Kindern und Jugendlichen. Vor der Entstehung von altersgetrennten Schulen gab es keine Situationen, in denen Kinder nach Alter gruppiert wurden. Junge Menschen, auch Teenager, spielten und erkundeten fast immer in altersgemischten Gruppen ihre Umgebung. Die Forschung hat gezeigt, dass das altersgemischte Spielen viele Vorteile gegenüber Spielvarianten mit homogenen Gruppen birgt (siehe Gray, 2011). Beim altersgemischten Spielen lernen die jüngeren Kinder ständig neue Fertigkeiten sowie komplexere Denkmuster, und zwar durch die Beobachtung von und den Austausch mit Älteren. Gleichzeitig erwerben die älteren Kinder Fähigkeiten wie Führungsqualitäten und Fürsorge und sie erhalten durch den Austausch mit Jüngeren ein Gefühl für ihre eigene Reife. Daniel Greenberg (1992), Mitglied des Gründungsteams der Sudbury Valley School, ist seit jeher überzeugt, dass die Altersmischung eine Schlüsselrolle beim Erfolg der Schule spielt.Das Eintauchen in eine stabile, von Respekt getragene Gemeinschaft. Kinder, die eine auf selbstbestimmte Bildung ausgerichtete Schule besuchen, sind in allen Aspekten vollwertige Gemeinschaftsmitglieder. Sie lernen, innerhalb der Gemeinschaft füreinander zu sorgen und auch für die Gemeinschaft selbst zu sorgen. Sie sind daran beteiligt, die Regeln der Gemeinschaft demokratisch zu bestimmen und durchzusetzen. Im Zuge dieses Prozesses bekommen sie das ganze Für und Wider einer jeden Auseinandersetzung mit, einschließlich der damit verbundenen, logischen Argumente. Ihre eigenen Ansichten werden von anderen ernst genommen, und sie beeinflussen die Entscheidungen der Gemeinschaft. Dadurch werden sie motiviert, intensiver über diese Ansichten nachzudenken, als es vielleicht sonst der Fall wäre. In einer solchen Umgebung lernen Kinder, nicht nur für sich selbst die Verantwortung zu tragen, sondern auch für andere – eine gute Voraussetzung, um wertvolle Bürger in der größeren Gemeinschaft zu werden.

 

Wie lässt sich ein selbstbestimmtes Bildungsprogramm evaluieren?

An konventionellen Schulen herrscht die Grundannahme, dass alle Kinder den gleichen Lehrplan verfolgen sollen, in etwa auf gleiche Art und Weise und als Teil eines benoteten Schritt-für- Schritt-Prozesses. Dieser Annahme gemäß werden konventionelle Schulen im Allgemeinen anhand der Ergebnisse der Schüler bei Prüfungen evaluiert, die die Lehrplanthemen zum Inhalt haben. In der selbstbestimmten Bildung gibt es keinen von außen vorgeschriebenen Lehrplan, vielmehr wird angenommen, dass die Schüler auf individuelle Weise und im eigenen Tempo lernen, und unterschiedliche Schüler sich zu Experten auf ganz verschiedenen Gebieten entwickeln werden. Aus diesem Grund stehen Prüfungen für die Schüler im Widerspruch zur grundlegenden Philosophie der selbstbestimmten Bildung. Tatsächlich können Prüfungen die selbstbestimmte Bildung unterminieren, weil sie den Schülern suggerieren, dass es darauf ankommt, sich auf einen Test vorzubereiten, statt ihre eigenen Interessen zu verfolgen und in ihrem eigenen Tempo voranzuschreiten.

Meiner Meinung nach stellt die Beantwortung folgender drei Fragen die beste Möglichkeit dar, eine auf selbstbestimmter Bildung basierende Schule zu evaluieren.

Sind die SchülerInnen glücklich?
Jedes System, das Schüler unglücklich macht, sollte per Definition als gescheitert eingestuft werden. Kinder haben es verdient, glücklich zu sein, und Fröhlichkeit ist förderlich für das Lernen.

Bietet die Schule optimale Bedingungen für selbstbestimmte Bildung?
In welchem Maße und in welcher Weise sind die sechs unter „Bedingungen, die selbstbestimmte Bildung optimieren“ aufgeführten Bedingungen in der Schule gegeben?

Führen Absolventen der Schule befriedigende, sinnstiftende, produktive Leben als Erwachsene?
Im Grunde genommen sollte die Wirksamkeit einer JEDEN Schule nach diesem Kriterium beurteilt werden – es gilt nicht nur für auf selbstbestimmter Bildung basierende Schulen. Das Abprüfen von Lehrplaninhalten mag den Evaluatoren Auskunft darüber liefern, wie gut sich die SchülerInnen auf Tests vorbereitet haben, nicht jedoch darüber, wie gut sie sich auf das eigentliche Leben vorbereiten. Meiner Meinung nach sollte jede Regierung, die es mit der Evaluierung der Wirksamkeit der verschiedenen Bildungssysteme ernst meint, Langzeitstudien finanzieren, die erwachsene Absolventen der verschiedenen Schularten nach diversen objektiven Indikatoren ihrer Lebenszufriedenheit, ihres sozialen Engagements und ihres beruflichen Erfolgs vergleichen.

 

Referenzen:
Barker, J. et al (2014). Less-structured time in children’s lives predicts self-directed executive functioning. Frontiers in Psychology, 5, 1-16.
Circle School (2015). Circle school graduates in 2015: College attendance, academic degrees, and occupations. Circle School Graduates in 2015: College Attendance, Academic Degrees, and Occupations
Gray, P., & Chanoff, D. (1986). Democratic schooling: What happen to young people who have charge of their own education? American Journal of Education, 94, 182-213.
Gray, P., & Feldman, J. (2004). Playing in the Zone of Proximal Development: Qualities of Self- Directed Age Mixing Between Adolescents and Young Children at a Democratic School. American Journal of Education, 110, 108-145.
Gray, P. (2011). The special value of age-mixed play. American Journal of Play, 3, 500-522. Gray, P. (2016). Children’s natural ways of learning still work—even for the three Rs. In D. C.
Geary & D. B. Berch (eds), Evolutionary perspectives on child development and education (pp 63-93). Springer.
Gray, P. (2017). Self-directed education—unschooling and democratic schooling. In Oxford Research Encyclopedia of Education. Available at:
https://oxfordre.com/education/view/10.1093/acrefore/9780190264093.001.0001/acrefore-9780190264093-e-80?rskey=ePLtsx&result=1
Greenberg, D. (1992). Sudbury Valley’s secret weapon: Allowing people of different ages to mix freely at the school. In D. Greenberg, Ed., The Sudbury Valley School experience. 3d ed., 121-136. Framingham, MA: Sudbury Valley School Press.
Greenberg, D., & Sadofsky, M. (1992). Legacy of trust: Life after the Sudbury Valley School experience. Framingham, Massachusetts: Sudbury Valley School Press.
Greenberg, D., Sadofsky, M., & Lempka, J. (2005). The pursuit of happiness: The lives of Sudbury Valley alumni. Framingham, Massachusetts: Sudbury Valley School Press.
Lancy, D. F., Bock, J., & Gaskins, S. (2010). Putting learning into context. In D. F. Lancy, J. Bock, & S. Gaskins (Eds.), The anthropology of learning in childhood, 3–10. AltaMira Press.
Wikipedia (2017). List of Sudbury Schools.
https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Sudbury_schools (web archive link)