rachel

Ohne demokratische Bildung wüsste ich nicht, was aus mir geworden wäre. Mit Sicherheit wäre ich nicht hier und würde das tun, was ich gerade mache. Es hat alles in meinem bisherigen Leben geformt und es wird auch weiterhin meine Zukunft prägen.

Als ich zwölf Jahre alt war, war ich Schülerin an der staatlichen Gesamtschule in unserer Stadt. Ich war immer eine fähige Schülerin gewesen, intelligent, interessiert, motiviert. Aber jetzt hatte ich Probleme. Probleme mit dem System; Authorität, zu den Besseren zu gehören, Prüfungsdruck, sozialer Druck und Regeln von oben, deren Sinn ich nicht erkennen konnte. Ich wurde depressiv und krank. Ich ging nicht mehr zur Schule, ich hörte weitestgehend auf zu sprechen, mehr oder weniger hörte ich auf erkennbar ich selbst zu sein. Meine Eltern waren besorgt und verzweifelt. Was könnte die Lösung sein? Was könnte ihre Tochter zurückbringen?

Wir hatten das Glück, im schönen südlichen Devon (England) in der Nähe der demokratischen Schule SANDS zu leben. Ein Familienfreund kannte die Schule und dank glücklicher Umstände bot er an, uns bei der Bezahlung der Schulgebühren zu unterstützen. Ich hatte von der Schule gehört und war misstrauisch: War diese Schule nicht für besondere Kinder, Problemkinder? Trotzdem entschied ich mich, es mal zu versuchen.

An meinem ersten Versuchstag setzte ich mich mit einem Lehrer hin und er sagte: „Ich sag dir, wie es hier geht. Du musst keine Prüfungen bestehen. Ganz im Gegenteil: Du brauchst nichts zu tun, was du nicht tun möchtest.“ Das war perfekt. Schon während meiner Probewoche begann ich den langsamen Prozess zurück zu mir selbst. Ohne den Druck der Anderen musste ich nur noch mir selbst und meinen eigenen Erwartungen genügen – und meine Erwartungen an mich selbst waren hoch genug. Schon immer mochte ich die Struktur von Regeln, aber nie verstand ich all die sinnlosen Regeln des Lebens. Hier konnte ich Teil des Aufstellens der Regeln sein und dazu beitragen, dass nur Regeln existierten, die Sinn machten. Die Schule passte zu mir wie ein Handschuh.

In meinen drei Jahren an der SANDS-Schule hab ich viele Sachen gemacht. Ich schrieb Gedichte, machte verrückte Skulpturen, kletterte, machte eine Million Pom-Poms (Chearleader Jubelbüsche), spielte in Theaterstücken, trank unendlich viel Tee, sprang in den Fluss, Sprach über alles von Gänsen bis zum Feminismus, leitete Schulversammlungen, agitierte, sprach mit Menschen jeden Alters, hörte zu und – irgendwo zwischen all dem – bestand ich den britischen Schulabschluss.

Als ich SANDS verließ, fühlte ich mich unzerstörbar. Ich war selbstbewusst, vielleicht ein bisschen arrogant. Ich hatte einen Weg des Funktionierens in dieser Welt gelernt der respektvoll war und Sinn machte. Ich wusste, ich könnte mich in alle wichtigen Kontexte kompetent einbringen und sie auch bei Bedarf wieder verlassen. Ich fühlte mich weit besser für die große, weite Welt vorbereitet als alle meine Gleichaltrigen. Ich wusste, was ich wollte und ich wusste, wie ich mich selbst motivieren konnte um meine Ziele selbstständig zu erreichen.

Anfangs am College wurde das von meinen Lehrern als „schlechte Einstellung“ fehlverstanden. Sie wussten, dass ich von SANDS kam hatten mich von Anfang an als „Problemstudentin“ eingestuft. Zurück in die autoritären Strukturen des Systems zu gehen, war am Anfang ein echter Kampf. Aber nach ein paar Monaten lernte ich, wo die Grenzen waren und wie ich sie so verschieben konnte, dass sie Sinn ergaben. Und meine Lehrer fingen an, meine direkte Art zu schätzen.

Anschließend ging ich zum Studium der Soziologie an die Universität York. Zu Beginn des Studiums fühlte ich mich immer noch besser vorbereitet als meine Mitstudenten. Ich kannte das selbstständige Lernen bereits und geht es an der Universität nicht vor allem darum? Trotzdem erlitt ich einen kleinen Schock: Es war das klassische „kleiner Fisch aus kleinem Teich im großen Ozean“-Phänomen. Keiner kannte mich, ich hatte keine persönliche Beziehung zu meinen Lehrern und schließlich dämmerte mir, dass ich bisher zwar mein Lernen selbst bestimmt hatte, dieses aber immer in einer kleinen, unterstützenden Umgebung passiert war mit sehr viel Vieraugengesprächen. Es war wieder ein Kampf. Ich musste lernen, wie selbstbestimmtes Lernen wirklich funktioniert aber am Ende habe ich es geschafft.

Mein Interesse an demokratischer Bildung verließ mich nie. Ich wählte Module in „Erziehung für eine bessere Welt“ und „Die Philosophie der Bildung“. Ich schrieb meine Dissertation über „Idealismus trifft Wirklichkeit“ um zu erforschen, welche Art von Menschen demokratische Bildung hervorbringt und in welchem Maß sie für die Integration in diese Gesellschaft vorbereitet sind oder nicht.

Nach der Universität arbeitete ich für sechs Monate in einem Kinderheim. Das war herausfordernd und eine große Lernkurve für mich. Die Kinder und ich kamen aus unterschiedlichen Welten. Sie konnten kaum – und zwar ziemlich wortwörtlich – verstehen mit dem Respekt angesprochen und zugehört zu werden, der nach meiner Erkenntnis allen Menschen zusteht.

Beim verlassen dieses Jobs erinnerte ich mich, warum ich an die Wichtigkeit demokratischer Bildung glaubte und nahm mir vor, mich darin aktiver zu engagieren. Eines Tages tippte ich idealistisch ‚Democratic Education Jobs‘ in die Google-Suchmaschine. Und unglaublich aber wahr, ein Praktikum beim Phoenix Education Trust tauchte auf. Ich hatte die Bewerbungsfrist verpasst, aber ich rief trotzdem an: Denn das war genau das, was ich tun wollte. Ich hab etwas über ein Jahr bei Phoenix gearbeitet, Anfgangs als Praktikantin und danach als Angestellte. Dadurch arbeitete ich mit der English Secondary Students Association (ESSA), koordinierte ihre jährliche „Student Voice“-Konferenz und bot Workshops in verschiedenen Schulen an. Wir boten den Schulen Unterstützung in der Entwicklung ihres „Voice“-Programms, verhalfen den Schülerstimmen dazu, Gehör zu finden und den Schülerräten dazu, demokratisch zu funktionieren.

Nach einem Jahr dieser Arbeit, wollte ich einen Schritt weiter in die radikale Richtung gehen und Erfahrungen in der Arbeit mit jüngeren Kindern machen. Ich sprach mit Anna von Phoenix darüber und sie schlug mir vor, die Freie Schule Leipzig zu kontaktieren – Leute, die sie und ich durch EUDEC kennengelernt hatten. Ich schrieb eine Bewerbungsemail und bot ein Praktikum als englisch Muttersprachlerin in ihrer Schule an.

Ich kam nach Leipzig für eine geplante Zeit von sechs Monaten ohne ein Wort Deutsch sprechen zu können. (Ich hatte nie eine Fremdsprache gelernt. Ich hatte es einfach nicht gewollt – ich war ja eine Schülerin einer demokratischen Schule, weißt du?) Heute, eineinhalb Jahre später habe ich eine Vollzeit-Lehrerstelle an der Schule und ich kann fast fließend Deutsch sprechen. (Diesen Text hat aber Gerd Wenning übersetzt … Anmerkung des Übersetzers)

Ohne demokratische Bildung wüsste ich nicht, was aus mir geworden wäre. Mit Sicherheit wäre ich nicht hier und würde das tun, was ich gerade mache. Es hat alles in meinem bisherigen Leben geformt und es wird auch weiterhin meine Zukunft prägen.